Programmbesuch bei YMCA Kolumbien

Ohne genau zu wissen was sie erwartet, ist unsere neue Programmverantwortliche für Kolumbien zu ihrem ersten Besuch aufgebrochen. Im Reisebericht erzählt uns Isabelle von ihren Eindrücken und gibt uns Einblicke in die Tätigkeiten der Jugendlichen im Programm.

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Ein Reisebericht von Isabelle Aebersold

Als ich anfangs Juli in den Flieger richtig Bogotá stieg, war ich mit einem Fuss noch in meinem bisherigen Job beim Schweizerischen Roten Kreuz in der Not- und Katastrophenhilfe tätig. Als Junior Programm-verantwortliche konnte ich dort während zwei Jahren in einem Ausbildungsprogramm zur Programmkoordinatorin Erfahrungen sammeln in der humanitären Hilfe. Unter anderem habe ich während dieser Zeit in einem Flüchtlingsprojekt in Griechenland gearbeitet und in Ghana Häuser wiederaufgebaut, welche nach Überschwemmungen zerstört worden waren. Insgeheim schlug mein Herz aber besonders für Lateinamerika, wohin es mich in der Vergangenheit immer wieder verschlagen hatte; sei es für ein Praktikum in Panama, meine Masterarbeit im Bolivianischen Chaco oder als Projektassistentin bei Swisscontact in La Paz. Dass ich nach meinem Juniorprogramm direkten Anschluss fand bei Horyzon als Programmverantwortliche für Kolumbien, ist für mich eine grosse Chance und zugleich ein Glückstreffer, da ich weiterhin mit Lateinamerika verbunden bleibe.

Voller Vorfreude, geteilt mit einer guten Portion Nervosität, reiste ich also anfangs Juli nach Kolumbien, um unsere kolumbianischen Partner und unser Programm Paza la Paz kennenzulernen. Paza la Paz ist ein spanisches Wortspiel und kann mit „Ein Schritt zum Frieden“ übersetzt werden. Die Friedensförderung ist deshalb ein Hauptziel des Programmes, welches mit Jugendlichen in 7 Städten Kolumbiens durchge-führt wird: Armero-Guayabal, Bogotá, Bucaramanga, Cali, Medellín, Pereira und Quindío. 3 dieser Standorte würde ich während der Projektreise kennenlernen, die anderen 4 werde ich hoffentlich im nächsten Jahr besuchen. Mein Vorgänger, Bruno Essig, begleitete mich bei der Reise, um eine nahtlose Übergabe des Projektportfolios sicherzustellen. Bruno war während der letzten 9 Jahre als Programm-verantwortlicher tätig bei Horyzon und hatte dementsprechend einen grossen Erfahrungs- und Wissensschatz aufgebaut. Meine Mission während unserer 2-wöchigen Projektreise bestand also auch darin, so viel von diesem Wissen wie möglich abzuholen.

Bruno Montagsmaler

In Bogotá besuchten wir als erstes Ciudad Bolivar - eines der ärmsten und gefährlichsten Viertel der Stadt. Die Mordrate ist hier beispielsweise 7 Mal höher als im Zentrum Bogotás. Bis vor Kurzem war das Viertel nur sehr schlecht erschlossen für die halbe Million Einwohner und die Fahrt mit dem Bus ins Zentrum der Stadt, dort wo es Arbeitsmöglichkeiten gibt, dauerte mehrere Stunden. Die Seilbahn, welche seit Ende 2018 das auf 3‘100 Metern über Meer gelegene Ciudad Bolivar mit dem Rest der Stadt verbindet, führte zu einer bedeutenden Aufwertung des Quartiers. Nun wagen sich sogar Touristen in die Region, vor allem angelockt durch die farbenfrohe Bemalung der Häuser. Wer jedoch denkt, die Häuser seien nur zur Dekoration so farbig gestrichen, täuscht sich schwer: Die Farbcodierung zeigt nämlich an, wie gefährlich es im Umkreis dieser Häuser ist: von grün (ungefährlich) bis rot (lebensgefährlich) wird so Touristen und Bewohnern gezeigt, welche Strassenzüge besser gemieden werden sollten.

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Auf der Gipfelstation der Seilbahn treffen wir Jonathan, ein Jugendkoordinator von Paza la Paz, mit einer Gruppe von Jugendlichen, welche uns anhand eines Theaters ihre Lebensrealitäten vorstellen. Diese sind alles andere als erfreulich: Durch die Armut fehlt es den Familien an Geld, um ihren Kindern ein Studium zu bezahlen. Ohne Studium stehen die Chancen auf einen Job jedoch schlecht: In Kolumbien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit im Durchschnitt 20%, in den Armenvierteln ist diese Rate noch bedeutend höher. Aus diesem Gefühl der Perspektivlosigkeit heraus schliessen sich viele Jugendliche kriminellen Banden an. Diese versprechen durch illegale Jobs im Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten das schnelle Geld und bieten somit eine Möglichkeit, der Armut zu entkommen. Gewalt ist allgegenwärtig, sei es Gewalt durch Gangs, sexuelle Gewalt oder häusliche Gewalt. Dies ist das traurige Vermächtnis des über 50 Jahre andauernden Konfliktes, welcher tiefe Spuren in der kolumbianischen Gesellschaft hinterlassen hat. Viele der Jugendlichen leiden an Depressionen oder konsumieren Drogen, auch dies eine Folge von Perspektivlosigkeit und Alltagsgewalt.

Biold Kindergeburtstag95

Anyul gründete dank Paza la Paz ihr eigenes Unternehmen "Smile Galaxy" und bietet Unterhaltungsprogramme für Kindergeburtstage an.

Da es in den öffentlichen Schulen Kolumbiens an Schulzimmern und Lehrern fehlt, gehen die Kinder und Jugendlichen nur halbtags zur Schule. Die eine Hälfte der Schüler*innen besuchen also am Morgen die Schule, die andere Hälfte am Nachmittag. Um zu verhindern, dass die Jugendlichen während der freien Halbtage auf der Strasse sind, bietet Paza la Paz verschiedene Aktivitäten in den Bereichen Sport, Tanz, Kunst, etc. an. Diese Aktivitäten sind ein Türöffner, damit die Jugendlichen im Programm Paza La Paz mitmachen. Wir durften mehrere dieser Gruppen besuchen, wobei mir dabei klar wurde, dass es in die-sen Gruppen um viel mehr geht, als nur etwas Spass miteinander zu haben. Die Gruppen bieten den Jugendlichen nämlich einen Ort der Sicherheit, wo sie sich akzeptiert und aufgehoben fühlen und ihre All-tagssorgen für einen Moment vergessen können. Viele der Jugendlichen finden in diesen Gruppen ein stabiles und positives Umfeld, wobei auch die Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen von Paza la Paz wichtige Erziehungs- und Vorbildrollen einnehmen. Auch werden gezielt „Problemkinder“ in diese Jugendgruppen aufgenommen mit dem Ziel ihnen alternative, gesunde und legale Zukunftsperspektiven aufzuzeigen. Nicht wenige Jugendliche konnten so ihre Drogenabhängigkeit überwinden oder traten aus der kriminellen Bande aus, welcher sie zuvor angehörten.

Cali

Unseren nächsten Stopp machten wir in Cali, der Hauptstadt des Salsas, wo wir sogleich eingebunden wurden in die Organisation eines bevorstehenden Events namens „Arte Jóven“, was so viel bedeutet wie „junge Kunst“. Mit Arte Jóven verwenden die Jugendlichen in Cali die Kunst als Mittel zur sozialen und politischen Mitgestaltung. Da Jugendliche in der kolumbianischen Politik und Gesellschaft kaum zu Wort kommen und eher als Problemfaktor denn als Ressource betrachtet werden, ist es ein Hauptziel von Paza la Paz diese Stigmatisierung umzukrempeln. Mit sozial und politisch wertvollen Aktionen verschaffen sich die Jugendlichen von Paza la Paz einen Platz in der Gesellschaft und bringen ihre Bedürfnisse und Wünsche in den öffentlichen politischen Diskurs ein.

Workshop 1

Brainstorming über mögliche Aktivitäten im nächsten "Arte Jóven" Event.

In einem vergangenen Event wurde beispielsweise im Armenquartier Mojica ein grosses Graffiti in Zusammenarbeit mit der gesamten Quartierbevölkerung gemalt. Die Mauer, wo das Graffiti entstand, befindet sich an einer Strasse, wo eine sogenannte unsichtbare Barriere herrschte, also eine Territori-umsgrenze zwischen zwei verfeindeten Gangs. Wer eine solche unsichtbare Barriere überquert, riskiert das eigene Leben, denn nicht selten kommt es an solchen Orten zu Schiessereien und Überfällen. Durch das kollektive Malen des Graffitis wurde dieser Ort zu einer Begegnungs- und Versöhnungszone transformiert. Zudem wurden traditionelle Kinderspiele wie Himmel und Hölle auf die Strasse gemalt und wo früher täglich Gewalt herrschte, spielen heute Kinder friedlich auf der Strasse miteinander.

In Siloé, ein weiteres Armenquartier in Cali, trafen wir auf Jhoan, ein früherer Teilnehmer von Paza la Paz. Jhoan durchlief das Training im Bereich Unternehmertum und verwirklichte seine eigene Business-idee, ein Barbier Shop. Durch Paza la Paz erhielt Jhoan eine kleine Anschubfinanzierung, damit er sich die wichtigsten Utensilien wie Friseurstuhl, Spiegel und Rasierapparat kaufen konnte. Mittlerweile zählt Jhoan eine ganze Reihe von Stammkunden und überlegt sich sogar zu expandieren. Um zu verstehen, weshalb dieses Geschäft so wichtig ist für Jhoan, muss ich noch etwas Hintergrundinfo zum Quartier Siloé liefern: Siloé liegt an einem steilen Hügel und wir kamen ganz schön ins Schnaufen, als wir durch die engen Gassen den Hügel hinaufstiegen. Während den 80er Jahren wurde Siloé kontrolliert von der Guerrillagruppe M – 19, heute sieht man an den Wänden Graffitis, auf welchen das Emblem der FARC zu sehen ist. Territoriumskämpfe zwischen verfeindeten Gangs gehören in Siloé zur Tagesordnung, genau-so wie Schiessereien, Überfälle und Drogenhandel. Sich als Jugendlicher nicht in diese Gewaltspirale verwickeln zu lassen, erfordert viel Mut, Wille und Durchhaltevermögen. Deshalb ist Jhoans Barberia viel mehr als nur ein kleiner Barbier Salon, denn es ist ein Ort des friedvollen Widerstandes gegen die Dominanz von Gewalt und Kriminalität im Quartier. Zudem ist es ein Leuchtturmprojekt, das zeigt, wie man als Jugendlicher in Siloé auf legale Art und Weise seinen Lebensunterhalt verdienen und seine eigenen Träume verwirklichen kann.

Risaralda

Als nächstes reisten wir nach Pereira im wunderschönen Kaffeedreieck Kolumbiens. Auch hier durften wir verschiedene Jugendgruppen besuchen und an Aktivitäten teilnehmen, welche spielerisch Werte vermitteln wie Zusammenhalt, Rücksicht, Toleranz, Respekt und Versöhnung. Auch werden durch diese Aktivitäten verschiedene Sozialkompetenzen gefördert in den Bereichen Management von Emotionen, Entscheidungstreffung, Leadership, Kommunikation und Konfliktlösung. Um die Wichtigkeit der Vermitt-lung dieser Werte und Sozialkompetenzen zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass diese Jugendlichen oft aus zerrütteten Familienverhältnissen stammen. In fast jeder Familie gibt es Opfer des Konfliktes und viele der Jugendlichen mussten vor der Gewalt fliehen und ihre Heimat zurücklassen.

Arbeittreffen

Auf einer Finca mitten zwischen Kaffee- und Bananenplantagen fand dann das alljährliche Arbeitstreffen der Programmverantwortlichen aus den 7 Städten von Paza la Paz statt. Das Hauptziel des Workshops war die Planung der neuen Programmphase von 2021 bis 2024, welche stärker an den Sustainable Development Goals (SDG) der Agenda 2030 ausgerichtet sein wird. Insbesondere wird der Fokus der neuen Programmphase auf dem Nachaltigkeitsziel Nummer 16 liegen, welches für friedliche, gerechte und inklusive Gesellschaften steht. Es wurde viel diskutiert, Plakate gezeichnet, es wurde gebastelt und neue Ideen und Inspirationen wurden gewonnen. Schlussendlich stand das Gerüst für die neue Phase: Durch Ausbildungen in den Bereichen Gewaltprävention, Friedensförderung und Konfliktlösung werden die Jugendlichen des Projektes darauf vorbereitet, sich aktiv für den Frieden in ihrem Kontext einzusetzen. Durch politische Bildung und Trainings in den Bereichen Menschenrechte und soziale Partizipation werden die Jugendlichen zu aktiven Teilnehmern der Zivilgesellschaft ausgebildet. Anhand von selbständig definierten sozialen und politischen Initiativen, verschaffen sich die Jugendlichen Gehör in ihren Gemeinschaften und setzten sich für mehr soziale Gerechtigkeit und Inklusion ein. Um sich aus ihrer eigenen wirtschaftlichen Marginalisierung zu befreien, erhalten die Jugendlichen Unterstützung in der Gründung eigener Kleinstunternehmen. Somit können sie einen ersten Schritt hin zur finanziellen Selbständigkeit machen oder das verdiente Geld in eine weiterführende Ausbildung investieren.

Innerhalb des Workshops fanden verschiedene weitere Aktivitäten statt wie beispielsweise eine Weiterbildung zum Thema Geschlechtergleichheit. Ziel der Weiterbildung war es zu bestimmen, inwiefern das Programm Paza la Paz dazu beitragen kann, ungleiche Geschlechterverhältnisse zu transformieren, die Rechte von Frauen zu stärken, die LGBT Community zu integrieren und geschlechtertypische Stereotypen zu revidieren.

Am letzten Abend des Jahresworkshops wurde Bruno mit einer berührenden Zeremonie als Programmverantwortlicher für Kolumbien verabschiedet. Als Symbol des Weiterziehens wurde ihm ein Flugzeug, bemalt mit Schweizerkreuz und Kolumbienflagge, überreicht, an welches unsere Partner farbige Bänder mit guten Wünschen für seine Zukunft befestigten. Getragen von diesen guten Wünschen wurde das Flugzeug so auf die Weiterreise geschickt. Dass der Abschied nicht leicht fiel, war offensichtlich, denn Bruno hatte während seiner Zeit als Programmverantwortlicher für Kolumbien viel Vertrauen und Wertschätzung zwischen Horyzon und unseren kolumbianischen Partnern geschaffen. Als seine Nachfolgerin ist es mir ein grosses Anliegen, diese wertvolle Beziehung zu pflegen und weiter zu vertiefen. Eine starke Partnerschaftsbeziehung mit gegenseitigem Vertrauen und Wertschätzung sind für mich das Fundament eines guten Programmes. Auch deshalb ist der Erfolg von Paza la Paz bestimmt zu grossen Teilen der guten Beziehung zwischen Horyzon und unseren Partnern vor Ort zu verdanken.

Flugzeug mit Baendern
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